V. Internationaler Kongress für Pietismusforschung - Gefühl und Norm. Pietismus und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert

V. Internationaler Kongress für Pietismusforschung - Gefühl und Norm. Pietismus und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert

Organizer
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Zusammenarbeit mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus
Venue
Franckesche Stiftungen zu Halle
Location
Halle an der Saale
Country
Germany
From - Until
26.08.2018 - 30.08.2018
Deadline
15.04.2017
Website
By
Thomas Ruhland, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Dem Titel des Kongresses ist eine doppelte Spannung eingeschrieben: Jeweils im Ganzen genommen scheint gegenüber dem Gefühl mit der Norm die Stimme der Vernunft ihre Ansprüche und Rechte geltend machen zu wollen. Norm und Vernunft, positives Recht oder göttliches Gebot, als vermeintliche Antagonisten des Gefühls, können dabei auch als disziplinierende Institutionen in Erscheinung treten. Dieser kategorialen Unterscheidung entspricht eine relative: dass nämlich nicht die Norm in Gestalt und Funktion der Vernunft dem Gefühl opponiert, sondern es eine Norm bzw. eine disziplinierende Normierung für das Gefühl im und durch das Gefühl selbst gibt. Und umgekehrt kann gelten, dass das Gefühl als Antagonist Norm und Vernunft, Dogma und Disziplin außer Kraft setzen kann. Insofern birgt Gefühl ein kritisches Potential in sich, das vielleicht in besonderem Maße im thematischen Kontext von Religion, Theologie und Frömmigkeit sichtbar gemacht werden kann. Gefühl erscheint dabei als Begleiter und Ausdruck für Konfessionskritik oder als Opponent gegen Dogmengläubigkeit, symbolisiert tiefe ‚wahre‘ Frömmigkeit sowie ihre Persiflage gleichermaßen.
D.h. die titelgebenden Phänomene Gefühl und Norm stehen in historischer Perspektive zueinander in einer dynamischen, oft spannungsvollen Interdependenz. Auch wenn im Folgenden der Akzent auf dem Gefühl liegt, gilt es ebenfalls die Norm in ihren historischen Ausprägungen und Dynamik als Ergebnis und Manifestation kultureller Setzungen oder Aushandlungen zu fassen. Grundsätzlich ist also zu fragen, wie in der Spannung von Einzelnem und Gemeinschaft das Verhältnis von Gefühl und Norm im 18. Jahrhundert ausgehandelt, ausagiert und organisiert wurde und speziell, welche Rolle der ‚pietistischen Frömmigkeit‘ dabei zukam. Mit ‚Pietismus‘ scheint im Blick auf die Forschungen z.T. noch der jüngsten Vergangenheit eine vornehmlich frömmigkeitliche, aber auch sozial reformerische Bewegung greifbar, die um einen emotionalen Kern herum organisiert gewesen sein soll. Befeuert hat die Forschung mit dieser angeblichen Priorisierung des Gefühls in den diversen ‚Pietismen‘ einen historisch unpräzisen, weitgehend homogenen und typologischen Pietismusbegriff. Damit ist zugleich eine seit den 1690er Jahre von lutherisch-orthodoxer wie von aufklärerischer Seite kolportierte Meistererzählung über eine dem Intellekt und der Gelehrsamkeit spottende, ja beide verachtende gefühlsintensive Frömmigkeitsbewegung fortgeschrieben worden, eine Zuschreibung, die neben den ‚Pietismen‘ weiteren frühneuzeitlichen religiösen Strömungen und Bewegungen zuteil geworden ist. Diese historischen wie jüngeren wissenschaftlichen Fest- und Zuschreibungen sind in der Perspektive des Verhältnisses von Gefühl und Norm kritisch zu befragen.

Für die Erhebung und Strukturierung von Fragestellungen werden im Folgenden einige Aspekte für Sektionen angeboten:

1) „Gefühl“ – Wovon ist im 18. Jahrhundert eigentlich die Rede?

Von Gefühl zu sprechen, ist im 18. Jahrhundert weder eine lexikalische noch eine semantische Selbstverständlichkeit. Das Wort- und Begriffsfeld ist dicht bestellt und bedarf der weiteren Durchsicht und Klärung. Genannt seien als oft – und häufig synonym – verwendete Worte im 18. Jahrhundert: Affekt, Begierde, Emotion, Empfindung, Gefühl, Leidenschaft, vielleicht noch Atmosphäre, eher noch Stimmung. Hinzu kommen oder kämen in einer schwer überschaubaren und dem Einzelfall vorbehaltenen Listung das feinst abschattierte Vokabular, mit dem spezifische Gefühlslagen wie die Melancholie und ihr semantisches Umfeld im 18. Jahrhundert aufgerufen und erzeugt worden sind, weiterhin lateinische und griechische Ausdrücke wie etwa anima, die oft Gefühls- und sonstige Lebensäußerungen mit konkurrierenden Konzepten von Lebendigkeit fassen und darüber Seelenvermögen und -zustände von Lebewesen verhandeln. Willkommen sind Beiträge, die das Wort- und Begriffsfeld zum Thema Gefühlsfähigkeit und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert sichtbar machen und begrifflich sortieren.

2) Kontextualisierung: Gefühl anthropologisch bzw. individuell

Kontextualisierung des Gefühls im Individuum heißt für das 18. Jahrhundert – im Rekurs auf das Konzept vom ‚ganzen Menschen‘ – die Verortung des Gefühls im dynamischen Ensemble von intellectus, voluntas und memoria, die immer auch (aber nicht nur) jeweils ein Element eines größer dimensionierten sozialen Intellekts, eines größeren sozialen Willens und einer größeren sozialen Memoria sind und als solches Element prägt und geprägt wird. Wer ist überhaupt zu Gefühlen fähig, unter welchen Voraussetzungen? Welche Verbindungen bestehen zwischen Gefühl, Vernunft und Seele jeweils und wie wirken sich divergente medizinisch-anthropologische Konzepte auf die Wahrnehmung der Gefühlsfähigkeit der belebten Welt im Allgemeinen und des ‚ganzen Menschen‘ im Besonderen aus. Willkommen sind Beiträge zur Anthropologie, die das Thema Gefühl im 18. Jahrhundert perspektivieren.

3) Kontextualisierung: Pietismus und Gefühlskulturen in gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten

Mit der anthropologischen Kontextualisierung des Gefühls im Individuum untrennbar verbunden ist deren Einbettung in unterschiedliche gemeinschaftliche, soziale und weltanschaulich-kulturelle Kontexte. Neben dem Ausgangspunkt ‚Pietismus‘ wären – ohne Vollständigkeit anstreben zu müssen – andere ‚Konfessionen‘, ‚Strömungen‘, ‚Bewegungen‘ oder ‚Einflüsse‘ in ihrer Prägekraft zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist zu fragen, ob und inwiefern mittels von Gefühlen bzw. von Gefühlskulturen Konstruktionen des Anderen nach den Rubriken von falschem oder wahrem Glauben, Nation, Stand, Geschlecht und Rasse ins Werk gesetzt werden. Es geht um Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert insgesamt, in denen Gefühle ‚des Pietismus‘ als Produkte (historisch konkreter) Aushandlungsprozesse bzw. auch als Knotenpunkte betrachtet werden können. Willkommen sind Beiträge, die weitere ‚Strömungen‘, ‚Konfessionen‘ oder ‚Einflüsse‘ mit Blick auf Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert sichtbar machen.

4) Wie wird Gefühl greifbar? Medien, Expression und Performanz

Nicht ‚wirkliche‘, authentische Gefühle bzw. die Wirklichkeit von Gefühlen stehen hier in Frage, sondern die mediale Präsenz und Vermittlung von Gefühlen, ihr Ausdruck und ihre Darstellung und damit (performative) Techniken der Erzeugung von Gefühlen. Medien sind selbstverständlich vielfältig; sie übermitteln und erzeugen nach bestimmten Spiel- oder Kunstregeln des Textes, der Musik, des Theaters, der Oper als für die Darstellung und zugleich für die Hervorbringung von Gefühlen bevorzugten Sukzessionsmedien; und ebenso übermitteln und erzeugen sie als oder im Bild, als oder in der Skulptur, des tableau vivant als Medien des prägnanten Augenblicks (Lessing). Dabei ist zu beachten, dass hier Gefühle nur als ‚Texte‘ existieren und nur in Texten greifbar werden. Künstlerisch generierte und gestaltete Gefühle sind in ihrer Spezifik – präziser noch als die Rede von historischen und kulturellen Prägungen zu erkennen gibt – aber auch über ihr bereits genanntes Verhältnis zum ‚ganzen Menschen‘ zu fassen. Willkommen sind Beiträge, die sich den genannten Medien in ihren emotionstheoretischen Spezifika und anthropologischen sowie ästhetischen funktionalen Verweisungszusammenhängen widmen.

5) Pietismus als emotional regime – Gab es ‚pietistische‘ Gefühle?

Die beiden Achsen der historisch-kulturellen und der anthropologischen Betrachtung sind dabei umso mehr in den Blick zu nehmen, wenn es im Sinne der historischen Emotionsforschung mit den Pietismen um die Analyse einer historischen Gefühlslage geht, die – darf man der diesbezüglichen interdisziplinären Forschung der letzten 20 Jahre glauben – eine eigene Gefühlskultur ausgebildet und sich zu einer emotional community vielleicht mehr noch zu einem emotional regime (B. Rosenwein) entwickelt hat. Aber gab es spezifisch ‚pietistische‘, ‚orthodoxe‘ oder ‚aufgeklärte‘ Gefühle? Wie sahen die Debatten im 18. Jahrhundert aus und wie kontrovers, wie konkurrentiell oder auf Ergänzung angelegt die Diskussionsbeiträge welcher Disziplinen / Fächern (Theologie, Philosophie, Ästhetik, Medizin, Naturgeschichte und Jurisprudenz)? Willkommen sind Beiträge zu Quellen, die typisch ‚pietistische‘ Gefühle behaupten oder bestreiten, deren Begründung und Institutionalisierung sowie identitätsstiftende und normierende oder auch subversive Konstituierung und Konsolidierung in Abgrenzung und Vereinnahmung thematisieren.

6) Norm und Gefühl als identitätsformende interdependente Faktoren

Erfassung, Vermessung und Kartierung sowie ggf. Disziplinierung der Gefühle dienen der Formierung und Habitualisierung einer individuellen wie einer kollektiven, einer Gruppen- oder Gemeinschaftsidentität im Zeichen zugelassener oder zugerichteter Gefühle unter dem Eindruck von Normen. Dabei ist mit Blick auf den ‚staatstragenden Pietismus‘ zu fragen, inwiefern ‚pietistische Gefühle‘ im Interesse und somit Teil der landesherrlichen Gesetze und Normierungstendenzen gewesen sind, die im System der „guten Policey“ z.B. in den Glauchaschen Anstalten wie in einer Laborsituation simuliert wurden. Orientierten sich Gefühlsnormen im religiösen und im säkularen Bereich an den Interessen des frühneuzeitlichen Staates und seiner Institutionen, bzw. der adligen Herrschaft? Haben die Normen ihrerseits entsprechend orientierte Schulung geboten oder sogar eingefordert? Muss von unterschiedlichen Normkulturen und Normpraktiken mit divergenten Prozessen von Normsetzung und Normdurchsetzung ausgegangen werden? Und als wie stabil oder fragil haben sich die Normen unter dem Druck freigesetzter Gefühle erwiesen? Willkommen sind Beiträge, die für den Pietismus, aber auch dessen Kontexte das Widerspiel von Gefühl und Norm mit Blick auf die Norm als kulturelles Produkt herausstellen.

7) Die räumliche und zeitliche Divergenz von „Gefühl und Norm“

Die Frühneuzeitforschung hat sich intensiv mit dem komplexen Feld von Normkonstituierung und -durchsetzung beschäftigt und auf die Einbindung in konkreten politischen, sozialen und kommunikativen Aktionen und Strategien verwiesen sowie die Widerständigkeiten gegen diese Normierungsprozesse betont. Daran anschließend sind auch für ‚den Pietismus‘ nicht nur unterschiedliche Räume seiner Ausprägungen, sondern auch unterschiedliche Zeiten für seinen jeweiligen Umgang mit seinen unterschiedlichen Gefühlen und deren Verhältnis zu Normierungen zu beachten. Man denke an A.H. Franckes Haltung in den frühen 1690er Jahren zu den begeisterten Mägden, die kaum in Einklang zu bringen sind mit seinem späteren Drängen auf Disziplinierung, auf Kirchenzucht und Normierung um 1700. Ähnliches gilt für Zinzendorfs Umgang mit der ekstatischen Frömmigkeit der Herrnhuter während der Sichtungszeit, und es gilt auch für die Kritik an der zur Empfindelei abgesunkenen Empfindsamkeit in den 1770er Jahren. Insofern sind hinsichtlich des theoretischen und des praktischen Umganges mit dem Gefühl neben den in der traditionellen Pietismusforschung eingebürgerten regional-territorialen Differenzierungen auch unterschiedliche, jeweils verschiedene Zeitschichten als konkrete Kontexte herauszuarbeiten und zu spezifizieren. Willkommen sind Beiträge, die mit Bezug auf das Thema von „Gefühl und Norm“ weitere räumliche und zeitliche Knotenpunkte sichtbar machen.

8) Gefühl als Norm am Beispiel Halle: Die Erziehung des Herzens

Der Titel „Gefühl und Norm“ will nicht ein schlichtes Gegeneinander behaupten. Das Gefühl, und zwar das entweder behauptete oder ausgehandelte richtige Gefühl, kann als Norm des erklärtermaßen unrichtigen Gefühls fungieren. Entscheidend ist somit im Prozess der Erziehung und der Selbstbildung die Tilgung nicht förderungswürdiger Gefühle. Am frühen Halleschen Pietismus wäre das an der Vorbildfunktion der geistlichen Gefühle, von denen die Bibel, insbesondere das NT, spricht, und den ebenfalls vorbildlichen Gefühlen der Autoren der biblischen Bücher zu demonstrieren. Diese im Unterschied zu den natürlichen Gefühlen kultivierten vorbildlichen Gefühle sind verstehend anzueignen und/oder in actu nachzuahmen. Aus diesen beiden Quellen schöpft die Gefühlserziehung. Ziel der Erziehung ist die Etablierung eines Gefühlsmanagements, das einen souveränen und reflektierten Selbstumgang erlaubt und zugleich eine Gemeinschaftsidentität fördert und befestigt, die sich durch die Wiedergeburt des Menschen zum Kind Gottes definiert. Mit der Affekthermeneutik hallescher Prägung steht zudem ein historisches Interpretament zur Verfügung, das neben frommer pädagogischer Theorie und erzieherischer Praxis auch die Kunst als Schule der geistlichen Gefühle umfasst. Zu fragen ist im Einzelnen nach den pädagogischen und ästhetischen Konzepten sowie nach den erzieherischen und künstlerischen Praktiken, die mit der Vermittlung von Fähigkeiten zur Subsistenzsicherung die Erziehung des Herzens in Richtung eines radikalen Umdenkens und der Initialisierung der Wiedergeburt verbinden konnten, um als ein Kind Gottes dennoch in der Welt sein Auskommen zu haben und seinem Glauben zu leben. Willkommen sind Beiträge zum konkreten Beispiel Halle und zu anderen Knotenpunkten im 18. Jahrhundert.

Ordnen Sie sich nach Möglichkeit einer Sektion zu oder bewerben Sie sich für ein von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus eingerichtetes Nachwuchspanel oder für eine Posterpräsentation. Für Vorträge gilt 20 Minuten Vortrag und 15 Minuten Diskussion, für Posterpräsentationen 10 Minuten Vorstellung und 10 Minuten Diskussion. Kongresssprachen sind Deutsch und Englisch.

Ihre Bewerbung mit einem abstract im Umfang von 1.000 bis 1.500 Zeichen (mit LZ) senden Sie bitte bis zum 15. April 2017 entweder postalisch oder per mail an die Kontaktadresse:

Programm

Contact (announcement)

Annegret Jummrich
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (IZP)
Franckeplatz 1, Haus 24
06110 Halle a.d. Saale

annegret.jummrich@pietismus.uni-halle.de


Editors Information
Published on
Contributor